Flucht rückwärts


P. rannte, was ihre Beine hergaben, hinter ihr wütendes Gebell. Nasse, schwere Erde, Klumpen blieben an ihren Schuhen kleben, sie stolperte. Der Kleine im Korb, Himmel, P. hielt einen Moment inne. Warro konnte ihr nichts mehr anhaben, man reagierte nicht sofort auf den Hund, liess ihn oft eine Weile bellen. Wenn man sie vermisste, würde sie schon fast im nächsten Dorf sein. Sie hob eine Spitze der Decke im Korb. Eine kleine hellbraune Schnauze streckte sich ihr entgegen, ein ängstliches Fiepen. „Hey hey, das schaffen wir, Kleiner, keine Angst.“ Ein kleiner Stups auf die Nase, dann zog sie die Decke wieder über seinen Kopf und lief weiter. Ihre Wanderschuhe waren gross und unförmig geworden, sie rannte mitten über ein Feld, das vor Kurzem für den Winter geackert worden war. Es stieg leicht an zum Waldrand und zu den benachbarten Wiesen hin. Schliesslich erreichte sie die ersten Bäume. Ausser Atem hielt sie an. Das Geld reichte für die Bahnfahrt in die Stadt. Nun war sie abgehauen, drei Tage bevor der Einsatz zu Ende war. Sollten die ohne sie zurechtkommen, sie waren nicht an den jungen Leuten interessiert, vielmehr an billigen Arbeitskräften. Ja, sie hatte es sich zu romantisch vorgestellt: In den Ästen alter Obstbäume Äpfel ernten, vielleicht etwas Traktor fahren lernen, Kühe melken und Ferkel füttern. Stattdessen war sie tagelang neben dem Wagen hergelaufen, den der Sohn selber fuhr, hatte Äpfel gepflückt, auf Knie- bis Augenhöhe zuerst, anschliessend über Augenhöhe. Stundenlang die gleiche Armbewegung, mit dem rechten Arm ausholen, in die linke geben, ablegen. Keinen zu Boden fallen lassen, keinen auf die anderen Äpfel plumpsen lassen. Zu kleine hängen lassen, grosse in den Zuber vorne auf der Ladefläche. Im Schritttempo, in endlosen Baumreihen, bei Nebel und Nieselregen. Die anderen sprachen kaum Deutsch. Ein zweiter Junge war Schweizer wie sie, daneben Rumänen, Bulgarinnen. Ältere Frauen, junge Frauen mit Kopftüchern, die kein Wort Deutsch sprachen. Der Sohn des Bauern war bestimmt über Dreissig. Mittags und abends Essen am grossen Tisch in der Küche des Bauernhofes. Das Essen war fett und wenig gesalzen. Sie hatte es sich anders vorgestellt, wirklich. Sie verdiente ein paar hundert Franken, die konnte sie gut gebrauchen. Aber sie hatte die Nase voll, warum war sie hierher gekommen. Nun hatte sie sich gerächt. Einen der zwei Welpen entwendet, die die Frau vom Nachbarshof mitgebracht hatte, zum Zeigen, wahrscheinlich erhoffte sie sich, einen von ihnen auf dem Hof loszuwerden. Warro war alt, konnte kaum mehr laufen. Anfangs hatte sie sich vor ihm gefürchtet, nach Kurzem hatte er sich an die vielen fremden Leute auf dem Hof gewöhnt.
Vorsichtig hob sie das kleine weiche Bündel aus dem Korb und öffnete ihre Jacke.
Sie wusste nicht viel von jungen Hunden. Sie würde in einer Tierhandlung nachfragen, welche Ernährung er brauchte, sie würde Bücher ausleihen, um ihn zu erziehen. Er war so süss, so klein. Lange hatte sie mit ihm gespielt. Er hatte nach ihrem Finger geschnappt, darauf herumgekaut, sie hatte ihn gekrault. Sein feines Fell, seine dünne Haut. Die Fahrt würde er schon überstehen. Sie würde für ihn sorgen. Er schnüffelte an ihrer Hand, an ihrem Ärmel, begann zu lecken, nieste. P. mochte nicht daran denken, wohin sie zurückkehrte. Das Loch, wie sie es nannte. Mama war wieder abgehauen. Von Zeit zu Zeit hatte sie einen Schub, es begann damit, dass sie Geld ausgab. Dann war sie unruhig, ständig auf Achse, verschwand jeweils für ganze Tage. Irgendwann teilte ihnen Papa mit, dass er sie wieder in die Klinik gebracht habe. Manchmal besuchten sie sie. Dunkle Augenringe, schlurfender Gang, zusammenhang­lose Satzfetzen. Kettenrauchen, Fragen stellen und nicht auf die Antwort warten. Grüngraue Linoleumböden, strenger Geruch. Geschlossene Türen, Personal in Weiss, kühl oder geschäftig gegenüber Angehörigen, nein, P. riss sich nicht darum, Mama in der Klinik zu besuchen. Nun war sie wieder dort. Vielleicht durfte sie schon manchmal raus. Papa holte sie jeweils für einen Nachmittag ab. Mama apathisch, mit Papa Kaffeetrinken. Papa stumm, aufeinander gepresste Lippen. Wenn Mama nach Hause kam, sah sie sich in der Wohnung um, als wär sie eine Fremde. Sie und Camilla grüsste sie kühl. Wie oft hatte P. das schon erlebt? Was war schlechter, Mama in der Klinik oder danach zu Hause, tagelang vor sich hin starrend, der Haushalt vernachlässigt, sie selbst ungepflegt. P. und ihre Schwester hatten sich daran gewöhnt, den Haushalt zu machen, wenn sie nicht da war. Papa kaufte ein, P. wusch und putzte, Camilla kochte und räumte die Wohnung auf. Camilla war zwei Jahre jünger. Aber nun hatte sie sie mit Paul erwischt. Ihrem Paul. Sie wusste nicht, ob er immer noch ihr Paul war. Und sie wusste nicht, ob sie wollte, dass Camilla immer noch ihre Schwester war. Camilla hatte alles zerstört. An der Schule hatte sie den Aushang gesehen, ohne Zögern angerufen.
Sie setzte sich und lehnte sich an einen Baum. Es war warm, seit gestern hatte es aufgehört zu regnen. Einzelne Blätter begannen sich zu färben, bald würde es Winter werden. Der kleine Hund versuchte aus ihrer Jacke heraus zu krabbeln, schnupperte, winselte. Sie hob ihn in die Höhe, sah ihn an. Er hatte eine kleine weisse Schnauze, weisse Pfoten, ansonsten war sein Fell braun und schwarz. „Musst noch viel wachsen, Kleiner.“ Sie stupste ihn mit der Nase. Er wand sich, jaulte, sie nahm ihn wieder auf ihren Arm. Dann wurde es warm unter dem Pulli. „Hehe, so geht das nicht, Süsser, du kannst mich nicht voll pinkeln.“ Das würde ihre erste Aufgabe sein. Sie hatte nichts zum Wechseln, zum Putzen. Der kleine Hund schnupperte. „Ja, ja, der Wald ist voller Abenteuer. Aber dafür bist du zu klein. Wenn du gross bist, gehen wir jeden Tag in den Wald.“ Er gähnte. Rosarote Zunge, kleine weisse spitze Zähnchen. P hielt ihm ihren Finger hin, der Kleine leckte. P. sah sich um. Niemand war unterwegs. Es war spät am Vormittag und sie musste achtgeben, dass sie den richtigen Weg fand.
Sie zog ein Brötchen aus der Jackentasche. „Hunger? Wollen wir teilen?“ Sie zupfte etwas vom weissen Brötchen und hielt es ihm hin. Sie hatte keine Ahnung, was ein junger Hund frass. Nun meldete sich auch bei ihr der Hunger. Sie teilte ihm einen weiteren Brocken zu. „Und dann wirst du bei mir schlafen, auf dem Bett, hm? Und ich werde dich überall hin mitnehmen.“
P. stand auf. „Auf geht’s, wir müssen weiter. Du machst eine grosse Reise, Kleiner.“ Sie kraulte ihn noch einmal, setzte sie ihn wieder in den Korb und deckte ihn zu, machte sich auf den Weg. Sie wusste die grobe Richtung, folgte einem breiten gekiesten Weg. Am Waldrand sah sie das Dorf, den Bahnhof. Sie wischte sich am Wegrand die Erde von den Sohlen, kaufte sich in der Bäckerei ein weiteres Brötchen und einen halben Liter Milch. Gut, dass die Bauernleute die drei letzten Wochenlöhne schon überwiesen hatten, den Lohn für die letzten zwei Tage konnte sie vergessen. Gemüseernte. In der Hocke stundenlang die Wege entlang rutschen.
Wer würde zu Hause sein? Papa arbeitete abends bis um fünf. Camilla? P. hatte keine Ahnung, was sie trieb. Muriel, ihre Freundin, die würde bestimmt zu finden sein. Notfalls konnte sie bei ihr unterschlüpfen. P. kaufte eine Fahrkarte und setzte sich in den Wartsaal. Um diese Zeit war sie die einzige. Vorsichtig hob sie ihn aus dem Korb. „Kleine Entdeckungsreise? Zugegeben, es gibt schönere Orte.“ Zwei Bänke an der Wand, einen Mülleimer und die Heizung. Es war düster und der Boden war schmutzig. Unsicher tappte er ein paar Schritte von ihr weg. Dann sah er zurück, winselte und machte wieder ein paar Schritte. P. stand auf und holte ihn zurück auf ihren Schoss. „Ich werde dir einen Ball besorgen. Und Gummidinger zum drauf Herumkauen. Oder Papas alte Pantoffeln.“
Die Tür ging auf und ein Kind trat herein, dahinter seine Mutter. Das Kind setzte sich auf die Bank gegenüber, dann starrte es auf den kleinen Hund auf P.s Schoss. „Mama, die Frau hat einen kleinen Hund!“ Die Frau hob den Blick, sah den kleinen Hund und musterte dann P. „Mama, darf ich den kleinen Hund anschauen?“ Die Frau nickte nur, das Mädchen stand auf und kam her, blieb unschlüssig stehen. Schliesslich streckte es die Hand aus. Der kleine Hund wich aus, schnupperte an der Hand des Mädchens, ein dünnes hohes Bellen. Das Mädchen lachte und wandte sich zur Mutter. „Der kann noch gar nicht richtig bellen, Mama.“ Die Frau sah wieder herüber, nickte etwas freundlicher. „Er ist noch nicht lang von der Mutter weg, nicht wahr? Was ist es denn für einer?“
„Ein Bernhardiner“, sagte P. schnell. Die Frau runzelte die Stirn. „Er hat aber eine schmale Schnauze.“ „Die wächst sich noch aus.“ P. stand auf, hob den Kleinen in den Korb, deckte ihn zu und wandte sich zum Gehen. Gleich würde der Zug fahren.
Sie hörte, wie das Mädchen seine Mutter fragte: „Können wir uns zum kleinen Hund setzen? Bitte, Mama.“ Sie setzten sich ins Abteil P. gegenüber. „Wie heisst er?“ Das Mädchen stand schon wieder da. „Weiss ich noch gar nicht“, rutschte es P. heraus. „Sie nannten ihn immer kleiner Hund, meine Grosseltern, meine ich. Ich war bei meinen Grosseltern. Sie haben einen Hof in D. Viele Schweine, Kühe und Obstbäume. Jetzt konnte ich meinen kleinen Hund bei ihnen abholen. Sie können ihn nicht behalten. Er hatte zwei Geschwister. Eines hat mein Grossvater getötet, das andere kommt auf einen anderen Hof.“ „Haben Sie dir keine richtige Hundetrage mitgegeben?“ „Och, das geht schon so. Ist ja nicht weit bis T. Wir hatten vorher nämlich schon einen Hund, auch einen Bernhardiner. Deshalb sind wir gut eingerichtet. Wir lieben Hunde. Meine Mutter ging morgens mit ihm raus, ich nachmittags und abends. Aber dann ist er von einem Auto angefahren worden. Mein Vater liess ihn einschläfern, er ist nämlich mit einem Tierarzt bekannt. Mein grosser Bruder hat sich nie um ihn gekümmert, deshalb gehört der hier jetzt mir allein.“ P. verstummte. „Aber er muss doch einen Namen haben“, beharrte das Mädchen, „Fips zum Beispiel.“ P. runzelte die Stirn. „Ja, wirklich, das muss er.“ Ich auch, dachte sie weiter. Petra ist doch echt beschissen. Aber mein zweiter Name, Ludmilla?
P. nahm den kleinen Hund aus dem Korb und setzte ihn aufs Polster. Das Mädchen holte einen Gummiball aus der Tasche und setzte sich daneben. Der kleine Hund wurde zutraulich, biss auf dem Gummiball herum, leckte daran und an den Händen des Mädchens und an Ps.
Nach zwei Stationen mussten die beiden aussteigen. P. atmete auf. Der kleine Hund hatte unterdessen auch die Decke im Korb vollgemacht. P. nahm sie heraus, drehte sie, setzte ihn wieder hinein. „Schlaf mal eine Runde, Kleiner.“
Er musste einen Namen haben.

Sie kramte den Wohnungsschlüssel aus ihrer Tasche und schloss die Tür zur Wohnung auf. Ein schwerer Geruch nach Essen und ungelüfteten Betten schlug ihr entgegen.
Niemand war zu Hause.
Sie nahm den kleinen Hund unter den Arm und sah sich um. Kaffeetassen auf dem Tisch, ein paar Kleider von Camilla auf dem Boden. Vaters Bett wie unbenutzt. Ihr eigenes Zimmer aufgeräumt, dunkel, das Bett zerknautscht. Pauls Sweatshirt auf dem Stuhl. Sie erwarteten sie nicht, das stand fest. Ein T-Shirt von Camilla unter dem Bett. P. drehte sich um und ging in Camillas Zimmer. Hier war alles durcheinander, Schulsachen, Taschentücher, CD-Hüllen, Kleider, ein Yoghurt, ein Teller mit Essensresten. P. ging zur Musikanlage und zog ein paar CDs heraus. Eine nach der anderen knickte sie und warf sie aufs Bett. Eine vom Konzert, das sie zusammen besucht hatten. Eine, die ihr ein Freund gebrannt und die sie dann pausenlos gehört hatte. Auch Pauls Lieblings-CDs fand sie, einen Stick und Camillas zweite Kopfhörer. Wenig blieb. P. riss auch die Poster von der Wand. Alles landete auf dem Bett.
Als sie ein ängstliches Fiepen hinter sich hörte, hörte sie endlich auf. „Komm, wir schauen, ob es etwas Essbares gibt.“ P. hob ihn hoch und ging in die Küche. Da war dunkles altes Brot, Milch und Butter im Kühlschrank, ein paar Äpfel, eine Gurke. „Nichts. Wir müssen raus.“ P. holte ein frisches Frottiertuch, stopfte es in den Korb.
In der Tür drehte ein Schlüssel. Papa stand in der Tür.
„Was machst du denn hier? Ich dachte, du bist in D. bei der Landarbeit.“
„Ich habe einen kleinen Hund mitgebracht. Ist er nicht süss?“
„Hm. Wie willst du das machen mit der Schule?“
„Weiss ich noch nicht. Ich gehe zu Muriel, komme am Abend wieder, okay? Tschüss.“ „Warte mal einen Moment.“ Papa stützte sich auf, strich sich über die Stirn.
„Und was ist mit Mama?“ ,unterbrach ihn P.
„Sie kommt in ein paar Tagen raus. Ich war eben da.“
„Ist es wie immer?“
„Ja.“
„Tschüss.“
P. knallte die Tür.
Papa war immer müde.
Sie kramte nach dem Handy und wählte Muriels Nummer. Sie meldete sich nicht. „Dann suchen wir eben einen Tierladen, ja? Wir holen ein paar Sachen für dich.“

„Ich hätte gern einen Schlafkorb und ein paar Spielsachen für den Kleinen.“ Eine jüngere Frau mit Rossschwanz zeigte ihr Verschiedenes. P. wählte Spielzeug und einen Korb; in einem Regal entdeckte sie Bücher. „Haben Sie etwas darüber, wie man sie aufzieht. Ich meine Pflege und Erziehung und so?“
„Über Schäferhunde? Ist er denn nicht schon registriert und geimpft?“ Die Frau schaute sie kaum an. „Sie hatten noch nie mit Hunden zu tun?“
„Doch, natürlich. Wir hatten einen Bernhardiner. Nur so, um sicher zu gehen.“

Draussen legte sie ihm das neue Halsband um und stellte den alten Korb neben einen Mülleimer. Der Kleine machte die ersten Schritte an seiner Leine. Als ihn jemand beinah umrannte, begann er zu winseln. „Verdammt, du bist noch viel zu klein,!“ P. nahm ihn wieder auf den Arm. „Ich werde für dich sorgen, hörst du?“
Was, wenn Muriel auch nicht zu Hause war?
Camilla und Paul wollte sie nicht mehr sehen.
Wie oft hatten sie und Camilla sich durch alle Fertiggerichte gekocht, die ihr Vater aus dem Supermarkt mitgebracht hatte, und sich während dem Essen durch die Sender gezappt. Camilla hatte alle ihre Lieblingsshirts gekriegt.
Von Zeit zu Zeit hatte Mama farbige Tücher an die Wände gehängt, die sie auf irgendeinem Bazar aufgetrieben hatte. Nach einer Weile verschwanden sie jeweils. Dann war die  Wohnung wieder grau, wie eh und je.

Mit der Strassenbahn fuhren sie zu Muriel.
Sie war zu Hause, öffnete im T-Shirt und mit frisch gewaschenen Haaren die Tür.
„Hey, was machst du denn hier!“, freute sie sich.
„Ich hab einen kleinen Hund, Muriel. Kann der manchmal bei euch wohnen? Deine Mutter ist doch immer zu Hause. Ist er nicht süss?“ P. hob ihn hoch und küsste ihn auf die Nase. Der kleine Hund nieste und zappelte.
„Er heisst Tille.“
Pause.
„Und ich nenn mich jetzt Milla.“
„Ach ja, wirklich?“, lachte ihr Muriel ins Gesicht, „Komm doch erst mal rein.“