So einfach schien es vorher: Sie legten den Zeitpunkt genau fest, sorgten dafür, dass jeder von ihnen ungestört war und konzentrierten sich dann auf einen einzigen Satz. Aber es kam nichts an. Am nächsten Morgen fragte er, ob sie es vergessen habe. Sie sah sich um, ob niemand mithörte.
„Was war denn eigentlich der Satz“, fragte er langsam.
Sie wand sich. Wenn er ihn schon nicht erhalten hatte, sagte sie ihn jetzt ungern laut. Wenn er nachgedacht hätte, hätte er ihn fast erraten können: Was ist ein Leben wert.
Und hätte er ihn erhalten, hätte sie es als Zeichen genommen.
Nach aussen hin war Miguel angepasst, aber er hatte ein Universum im Kopf.
Es gibt noch anderes“, sagte er, „die Gedanken sind frei, nicht wahr?“
Sie nickte.
„Worüber redet ihr?“ Tom war ungebeten dazu getreten.
„Über Telepathie.“ Miguel war freundlich. Sie sassen in der gleichen Bank und hatten den gleichen Weg nach Hause.
Tom hob die Augenbrauen und musterte Ella.
„Von meiner Tante habe ich gehört, was meine Grossmutter alles erlebt hat“, sagte sie schnell. „Tote Bekannte, die sich bei ihr gemeldet haben, ein Unfall, über den sie auf unerklärliche Weise informiert wurde. Schliesslich hat ein Nachbar ihr sogar den Tod angekündigt. Der war kurz vor ihr gestorben und erschien ihr im Traum. Er sagte: Komm Marie, wir gehen. Sieben Tage darauf starb sie.“
„Und das glaubst du etwa alles?“
„Sie war immerhin meine Grossmutter. Die Tante, die es mir erzählt hat, hat ähnliche Fähigkeiten. Es scheint nicht nur angenehm zu sein.“
„Und woher nimmst du die Sicherheit, dass das Sichtbare unsere einzige Wirklichkeit ist?“ ergänzte Miguel.
Tom zuckte die Schultern und sah sich um. „Was soll denn nicht wirklich sein hier?“
Graue Steinfliesen, eine Bank unter dem Fenstersims, das Klo. Eine runde Treppe führte ins Erdgeschoss.
Es klingelte, sie mussten wieder rein.
„Na, dann habt ihr ja vielleicht Gescheiteres zu tun, als weiter Franz zu büffeln.“ Tom wandte sich zum Gehen.
Ella zögerte. Dann fügte sie sich.
Sie kam mit einem älteren Mountainbike. „Von meiner Schwester übernommen“, erklärte sie. Sein Rad hingegen war ziemlich neu, unauffällig, aber sehr solid. Ella fühlte sich wieder ein bisschen wie damals, als sie ihn besucht hatte. Seine Eltern besassen ein eigenes Haus mit Sauna und Schwimmbecken im Garten. Miguels Vater war Arzt. Ella war noch nie in der Sauna gewesen.
„Gehst du etwa mit deiner Mutter hinein?“, hatte sie nach einer Weile gefragt.
„Ich war noch nicht oft drin, warum meinst du?“
„Schönes Fahrrad“, sagte sie jetzt leise und zeigte die Richtung, in die sie fahren würden. Sie hatten sich am Rand des Industriegebietes getroffen und folgten dem Fluss einige hundert Meter. Es war alles grün, saftig, aber der Himmel bewölkt, die Wolken hingen tief.
„Es ist die totale Ehre, dass ich dir das Gebiet zeige, bist du dir dessen bewusst?“, grinste Ella. Miguel sah vor sich auf die Strasse.
Sein Blick streifte sie kurz. „Danke. Worauf lasse ich mich eigentlich ein?“
Ella überlegte: „Auf die Praxis zu deinen Theorien, glaube ich.“
Dann bogen sie ab. Eine schmale Fussgängerbrücke führte parallel zur Autobahn über den Fluss. Dahinter lag Schilf, ein alter Weiher, eine Steinbank. Ein paar Stockenten und Blässhühner waren auf dem Wasser. Darüber die Autobahn, im Sommer warf das Wasser Lichtschatten an die Betondecke.
„Hier habe ich einmal einen Eisvogel beobachtet.“
„Und woher kommt der kleine Kanal?“
Ruhig floss dunkelgrünes Wasser aus dem Schilf in den Weiher.
„Er verschwindet im Schilf und taucht irgendwann neben Schienen wieder auf, die zur Industrieanlage dort hinten führen. Lass uns hier lang gehen.“
Sie zeigte auf einen Weg, der unter der Autobahn zum nächsten Wald und Hügel führte.
„Bist du oft hier?“, fragte Miguel, während sie aufstiegen.
„Manchmal. Wenn ich es zu Hause nicht aushalte. Hast du keinen Ort, wo du hingehst?“
Miguel schüttelte den Kopf. „Ich schliesse mich im Zimmer ein.“
„Das geht?“
„Kopfhörer, Techno. Minimal Techno. Meine Eltern lassen mich eigentlich in Ruhe. Deine nicht?“
„Schon“, sagte Ella gedehnt, „es ist nicht das gleiche. Wie soll ich sagen, man ist nie wirklich allein.“
Der Weg stieg an, grober Kies, sie stiegen vom Rad. Die Luft war feucht, die Wolken grau, die Farben stumpf. Eine Weile mussten sie der Autobahn entlang gehen. Dem Autolärm ausgesetzt, schoben sie wortlos ihre Räder nebeneinander her.
Die Autobahn hatte den Wald in zwei Teile geteilt: Den unbekannten Teil zu ihrer Linken hatte sie erst vor einigen Monaten entdeckt. Er war ungepflegt, umgestürzte Bäume, den Weg überwuchernde Brombeerhecken, Abfall lag herum. Sie kamen an einem grossen runden Metalldeckel vorbei, der auf Kniehöhe über dem Boden angebracht und von einem zwei Meter hohen Zaun umgeben war. Rauchen war strengstens untersagt, Explosionsgefahr signalisierte eine Tafel. Miguel wusste auch nicht, was es bedeutete. „War hier früher nicht eine Abfalldeponie? Gärt es nun darunter?“
Dann kamen sie an eine Weggabelung. Ein Weg führte rechts über eine Autobahnbrücke in den bekannten Teil des Waldes, der andere in den Wald links, man sah nicht wohin.
„Lassen wir das Fahrrad hier“, sagte Ella. „Zu Fuss ist es interessanter.“
„Gleich wird es regnen.“ Sie sah zu den Wolken hoch. Wie viel Abstand war gut zwischen ihnen? Auf dem Fahrrad war es einfach gewesen, klar. Zu Fuss war es immer zu wenig, und doch zu viel. Sie schlenkerte die Arme.
„Hörst du die Stille?“
Miguel wiegte den Kopf. „Hm, ja“, murmelte er und blieb stehen. „Die Autobahn ist erstaunlich weit weg. Zeig doch mal was.“ Er sah sie an.
Ella zögerte.
„Da vorne war letztes Mal eine grosse Pfütze, feiner hellbrauner Schlick in einem Sonnenfleck zwischen den Bäumen. Und dann habe ich Spuren erkannt, ganz kleine, von Ameisen. Einige krabbelten noch weg…“, sie stockte. „Oder dahinten ist ein morscher Baumstrunk. Das Holz war so feucht, dass man Stücke herausbrechen und auswinden konnte, es tropfte. Das Holz hatte eine intensive Farbe, ocker.“
„Du bist ein Naturkind, ich verstehe“, grinste er.
„Sehr witzig“, Ella verdrehte die Augen.
„Sei nicht gleich eingeschnappt.“ Er fasste sie am Ärmel.
Ella sagte nichts.
„Erinnerst du dich an Camus, den wir letztes Jahr im Französisch lesen mussten? Wie der Fremde auf dem Friedhof zurückbleibt. Die Sonne brennt, die Luft flimmert, er ist allein und irgendwie frei. Manchmal kommt er mir hier in den Sinn.“
Miguel erwiderte nichts.
„Gehen wir quer durch den Wald, manchmal passiert nichts auf den Wegen.“
Sie stiegen zwischen dichten Tannen den Hügel hoch. Der Boden war nackt und weich, nur hie und da stolperte man über eine Wurzel. Weder Sonnenlicht noch Regen drang durch die Äste. Einmal hatte sie hier bläuliche Pilze entdeckt. Aber sie hatte nicht im Pilzbuch nachgeschlagen.
Als sie wieder in offenerem Gelände waren, schrie ein Greifvogel, zuerst weiter entfernt, dann plötzlich sehr nahe. Er schoss durchs Geäst, zwei Krähen hinter ihm her. Ella und Miguel duckten sich unwillkürlich. Die Krähen waren kleiner, gewandter, zu zweit. Der Bussard schlug Haken in der Luft, bemühte sich, ihnen auszuweichen. Durchdringend gellte sein Ruf. Nach zwei Sekunde waren sie in den Ästen wieder verschwunden.
„Was haben die?“ Miguel rührte sich nicht.
„Sie jagen den Bussard weg.“ Ella trat einen Schritt aus dem Gebüsch und lehnte sich an einen grossen Baum.
Da kam er noch einmal, stürzte ganz nahe an ihnen vorbei, nun schon vier Krähen im Nacken. Ella machte einen Satz rückwärts, Miguel spähte zwischen den Ästen hindurch. Die Krähen hackten nach dem Bussard, er trug etwas in seinen Krallen. Laut schrie er noch einmal, dann entfernten sie sich endgültig.
Miguel horchte ihnen nach, schüttelte sich nach einer Weile. Schliesslich sagte er: „Okay, okay. Dagegen ist meine Musik aus Plastik.“
Den Schrei des Bussards im Ohr stiegen sie weiter, durch niedrigeres Gehölz und erreichten einen Weg. Er führte in einer Schlaufe um den kleinen Hügel herum. Ein Feld brusthoher Stauden mit kleinen rosaroten Blüten gab den Blick frei zur Kuppe. Eine einzelne junge Birke wuchs darin. Einmal hatte Ella lange am Fuss der Birke gesessen.
„Hier kann ich nachdenken. Ich bin noch nie jemandem begegnet. Alles wird unwesentlich und bedeutend zugleich. Wohin glaubst du gehen wir nach dem Tod?“
„Ins Nichts“, erwiderte Miguel prompt. „Ich bin Atheist.“
Miguel betrachtete alles aufmerksam rund um sie herum.
„Was suchst du? Wir sind längst angekommen, die ganze Zeit schon.“
„Und weißt du, wer du bist?“ Ella nahm den Faden wieder auf. „Was ist das Ich? Wie bin ich ich geworden?“
„Das Ich ist eine Konstruktion. Es gibt keine festen Grenzen, glaub mir. Die Alten gingen davon aus, dass es ein Ich gibt, unverwechselbar und im Wesentlichen unveränderlich. Man kann sich entwickeln, Glück oder Pech haben, aber man ist die Person, die man ist, noch vor der Geburt. Das ist Quatsch, meiner Meinung nach.“
„Wie ist es denn, wenn nicht so?“, fragte Ella.
„Du kannst nie sicher sein, dass du dich selber bist“, sagte er langsam. „Woran erkennst du dich? Hm?“ Er sah sie an.
„Nicht einmal, dass es dich wirklich gibt, weißt du mit Sicherheit“.
Ella seufzte.
„Aber du bist frei zu denken, wer und wie du bist. Oder wie du sein willst. Sogar ob du überhaupt sein willst.“
Sie erreichten die kleine Wiese, wo der Weg endete. Dichtes weiches Gras füllte den kleinen Platz, der von Gebüsch umgeben war.
Hier hatte sie an ihn gedacht. Sie setzte sich ins Gras.
Er nahm seine Jacke aus der Tasche und breitete sie aus. Dann legte er sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf, sah in den Himmel.
Ella stützte sich auf die Ellbogen und rupfte etwas Gras aus. Sie spannte es zwischen ihre Daumen und setzte sie an den Mund. Doch dann liess sie die Hände wieder sinken.
„Warum hat das nicht funktioniert mit der Telepathie? Was braucht es dazu?“
„Keine Ahnung“, antwortete Miguel, „vielleicht Begabung?“
„Ich dachte, der Wille sei ausschlaggebend, die Gedanken sind frei, sagst du doch immer.“
„Wahrscheinlich waren wir nicht bereit. Der Geist noch zu sehr im Alltag verhaftet oder so.“
„Wollten wir nicht das gleiche?“ Ella streifte ihn mit ihrem Blick. Sie heulte mit dem Grashalm auf wie ein trauriges Tier.
„Vielleicht gibt es Telepathie gar nicht wirklich. Vielleicht nur bei eineiigen Zwillingen oder alten Ehepaaren“, überlegte Miguel weiter.
Ella wandte sich ab.
Miguel kam auch an die Party und Ella war die einzige, die sich für ihn interessierte. Miguel kam auch mit hartem Alkohol klar, während Ella rauchte. Eine Weile hielten sie sich abseits, beobachteten die Leute. Viele aus der Klasse hatten noch jemanden mitgebracht. Ellas Freundinnen beobachteten sie und liessen sie in Ruhe. Miguel sah nicht schlecht aus. „Aber er hat keinen Charme“, sagten sie, „Der stolpert dir über die Füsse, wenn er dich küssen will.“
„Woher wisst ihr, ob ich das will?“
„Was findest du denn so interessant an ihm?“, hatte Gabriele weiter gefragt.
„Er weiss viel. Er ist anders. Ich …“ Ella suchte nach Worten. Sie wich ihrem Blick aus.
Nun nippte sie ab und zu an ihrem Bier und lehnte sich an die Tresen. Miguel gab sich unbeteiligt, kommentierte die Musik, die einer aus der Klasse auflegte.
„Wie würdest du es tun, wenn du dich mal entschieden hättest?“
Miguel warf ihr einen schnellen Blick zu.
„Mit der Pistole meines Vaters.“
„Wie, ihr habt eine Waffe zu Hause?“
„War doch ein Witz.“
„Also weißt du’s gar nicht!“
„Plastiktüte übern Kopf. Dazu braucht man nichts, tut nicht weh. Und es ist sicher. Sieht nur nicht so schön aus, nachher.“
„Schlagadern, das geht häufig schief. Woher weißt du das mit der Plastiktüte?“
„Ein Schriftsteller hat sich mal so umgebracht. Im Nachruf in der Zeitung stand nicht wie. Erst Monate später fand ich den Hinweis in einem Nebensatz. Hat mich dann irgendwie beschäftigt.“
„Du bist mir immer einen Schritt voraus.“
„Mach dir nichts draus, ich mag dich auch so“, grinste Miguel.
„Wie viel hast du schon intus?“
Miguel verzog den Mund.
Tom kreuzte auf. „Wälzt ihr etwa schon wieder Theorien?“
„Wie man sich am besten umlegt“, gab Ella Auskunft.
Tom verdrehte die Augen. Dann sah er vom einen zum anderen.
„Kommst du tanzen, Ella?“
„Und wie käme ich dazu? Ich kann nicht tanzen.“
„Na, dann vergnügt euch mal gut“, unterbrach Miguel und nahm sein Glas mit in Richtung Theke.
Tom legte Ella die Hand zwischen die Schultern. Sie war warm und fest. Ella war neugierig.
„Ich kann’s aber nicht.“
„Es ist einfach, ich zeigs dir. Komm schon.“
Er zog sie zu den wenigen Tanzenden.
„Hast du mal richtig tanzen gelernt?“
„Ja, mit meiner Ex-Freundin. Wir haben etliche Kurse gemacht. Aber lenk nicht ab. So geht es!“
Tom zog Ella dicht an sich heran.
„Übernimm die Bewegung von mir, lass dich führen.“
Ella fühlte sich unbehaglich. Ihre Freundinnen reckten ihre Hälse. Aber der Schritt war einfach, sie begann mitzuschwingen, entspannte sich. Er macht es gut, fand sie, hätte ich ihm gar nicht zugetraut.
„Es scheint dir zu gefallen“, sagte er nach ein paar Takten. Leiser Triumph schwang in seiner Stimme mit.
Dann begann er mit einfachen Figuren. Sie fiel aus dem Takt, entschuldigte sich, grinste. Sie versuchte die Drehungen auszuführen, konzentrierte sich. Es war schön, wenn es gelang, sie war ein bisschen stolz. Seine Nähe erregte sie. Sein muskulöser Körper, seine Geschmeidigkeit, seine Sicherheit.
Einige Paare, die sie nicht kannte, hatten sich dazu gesellt.
Konnte man sehen, wie nah sie ihn heranliess? Seine Schenkel in ihrem Schritt. Ihre Wangen glühten. Sie mied seine Augen.
Dann folgte eine Pause. Tom liess sie los.
Unsicher folgte sie ihm an die Theke. Er bestellte beiden ein Bier.
Miguel war nirgends zu sehen.
Nach einer Zigarette floh sie in die Toilette.
Im Neonlicht sah sie ihr rotes Gesicht, die strähnigen Haare. Die Schminke war weg. Sie trug neuen Lippenstift auf, liess Zeit verstreichen.
Dann ging sie zur Garderobe, fischte ihre Jacke und ging nach draussen.
Wo war eigentlich Miguel? War er abgehauen?
Sie ging die Strasse entlang bis zum Friedhof. Das Tor war geschlossen. Sollte sie klettern?
Zögernd folgte sie der Mauer. Die Wiese war matschig, sie kehrte um.
Auf dem Rückweg kam sie an einem Unfall vorbei. Die Strasse war abgesperrt, Leute standen herum, die Polizei war da, die Sanität.
Ella ging schnell vorbei.
Als sie zurück kam in den Saal, herrschte Aufruhr.
Gabriele schrie einen etwas älteren Jungen an. „Und warum hat ihm keiner von euch den Schlüssel abgenommen?“ Ein Kreis hatte sich um die beiden gebildet. Gabrieles Freundinnen standen hinter ihr und versuchten sie zu beruhigen.
„Du weißt doch, wie eigensinnig er ist. Wir haben ihm gesagt, er soll nicht losfahren oder ein Taxi nehmen“, verteidigte sich der Angesprochene.
„Wisst ihr wenigstens, wohin er gebracht wird? Hat jemand seine Eltern angerufen?“
Die Jungen sahen betreten zu Boden.
„Vielleicht ist er gar nicht tot. Die Ambulanz war im Nu hier. Die flicken ihn schon wieder zusammen.“
„Aber sein Scooter ist nur noch ein halber Meter lang“, gab einer zu bedenken, „der liegt noch da draussen.“
„Er ist doch gar nicht mehr dein Freund, was regst du dich eigentlich so auf?“
Ella war kalt. Ein scharfer Wind blies durch die offene Türe herein.
Da draussen, das konnte nicht Michele sein. Er konnte nicht tot sein.
Er war seit Jahren Gabrieles Freund gewesen.
Ella hatte lange in der Bank neben ihm gesessen. Mathe und Physik waren nicht gerade seine Stärke, er hatte oft von Ella abgeschrieben. Später wollte er Jura studieren, oder Medizin.
Vor kurzem hatten sich die beiden getrennt, zum zweiten Mal. Gabriele hatte kein gutes Wort mehr über ihn ertragen.
Die Freundinnen kümmerten sich um sie.
Ella wusste nicht, was tun. Etwas war aufgerissen.
Tom kam mit zwei anderen von draussen herein. Sie hatten mit der Sanität gesprochen. Nun redeten sie mit Gabriele, telefonierten. Irgendwann wurde Licht gemacht, die Leute fingen an, die Sachen einzupacken, Ordnung zu machen. Die Fete war aus.
Ella stand verloren herum.
Tom hatte sie vergessen.
Unvermittelt tauchte Miguel neben ihr auf.
„Ich habe seine Augen gesehen“, sagte er leise. „Genauso tot wie die von meinem Grossvater letztes Jahr.“
„Wie, du hast ihn dir angeschaut?“
„Klar. Vielleicht wollte er es, wer weiss? Wer setzt sich schon aufs Motorrad und fährt in den erstbesten Baum.“
„Er war betrunken.“
„Trotzdem. Seine Eltern bekriegen sich seit Jahren. Und er fliegt raus, wenn er in den nächsten Wochen nicht lauter Sechsen schreibt.“
„Er und Gabriele haben sich gerade getrennt.“
„So’n Pech.“
„Du bist kalt.“
„Stört es dich?“
Ella sagte nichts.
„Ich hab etwas LSD aufgetrieben. Machst du mit? Wo ist eigentlich dein Tänzer?“
Ella sagte noch immer nichts.
„Ich gehe jetzt. Kommst du? Oder kommst du nicht?“
Dann ging er.
Nach und nach gingen auch die anderen.
Ella ging weg, ohne sich zu verabschieden.
Auf der kleinen Brücke bei der Autobahn hielt sie ihr Fahrrad an. Es war noch nicht spät. Ein leichter Wind wehte. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Sie schob ihr Rad weiter. Leicht raschelte das Schilf, gedämpft waren Geräusche von der Autobahn zu hören. Ein paar Enten erhoben sich kreischend in die Nachtluft. Ella fühlte ihr Herz bis zum Hals hinauf klopfen. Zögernd ging sie weiter, erreichte den Kiesweg, der zum Hügel hoch führte.
Am Waldrand trat ihr ein Schatten in den Weg.
„Ich wusste, dass du kommen würdest“, sagte Miguel.
„Was erschreckst du mich so!“
„Ich habe einen Weg gefunden. Die Autobahnbrücke ist hohl. Am Brückenkopf gibt es eine Tür, die nicht abgeschlossen ist. Dahinter lässt sich ein Bodendeckel heben, der in den Zwischenraum hinunter führt. Er ist nicht hoch, vielleicht eins fünfzig. Hat wohl einer vergessen zu schliessen.“
„Du bist verrückt, Miguel! Du hast sicher schon eine Menge geschluckt!“
„Die Autos donnern über deinen Kopf hinweg. Unter dir die Leere, der Fluss. Ab und zu kann man durch Löcher hinunter sehen …“
„Das ist Wahnwitz! Ein falscher Tritt in der Dunkelheit …“
„Man kann den Fluss auch anders überqueren. Entscheide dich, Ella.“